Habt Ihr sie noch alle?
Eure Ideen, die Euch antrieben, damals, als Ihr dachtet, Euch gehöre die Zukunft? Als Verantwortung noch keine Last sondern ein Versprechen war, als Ihr mehr Zeit als Geld hattet und trotz dieses Umstandes noch weitaus mehr Einfälle als die Euch so reichhaltig zur Verfügung stehende Zeit.
Habt Ihr sie noch alle?
Eure Träume, die Euch den ganzen Tag auch im Wachzustand begleitet haben und nicht nur in den Nächten, die im Übrigen - genau wie die Träume - nicht schweißnass und sorgenschwer alle paar Momente unterbrochen wurden. Als Ihr Eure Träume noch so greifbar nah vor Euch saht, dass Ihr eher gegen eine Laterne gelaufen wärt, als Ihnen nicht zu folgen. Als Ihr dachtet, Ihr würdet lieber sterben, als sie zu verraten. Als Ihr im Zweifel genau das getan hättet.
Habt Ihr sie noch alle?
Eure Ideale, die Euch dazu befähigten, Euch mit der ganzen Welt anzulegen, dem noch so übermächtigen Gegner die Stirn zu bieten und sogar in hoffnungsloser Unterlegenheit das Gefühl der sicheren Unsterblichkeit zu verspüren? Und genau daraus Eure Energie zu ziehen.
Habt Ihr sie noch alle?
Eure ganz eigene Wahrheit? Eine Wahrheit, die nicht auf bloßer Hybris, latentem Altersstarrsinn oder hart erworbener wirtschaftlicher Überlegenheit fußt, sondern genährt wird aus einer eigenen, beneidenswert unangepassten Sicht der Dinge, die nicht überzeugen will, weil sie Wohlstand, einen individuellen Vorteil oder gesellschaftlichen Rang verspricht, sondern den schlichten Glauben an das Gute, das Verbessern von Lebensumständen für viele, den Anspruch an erfüllenden Altruismus als die wahre regenerative Energie auserkoren hat.
Habt Ihr sie noch alle?
Die Fähigkeiten das Kleine als ein großes Glück, als Quelle der Inspiration wahrzunehmen? Die Fähigkeit, das ganz ganz Kleine überhaupt noch wahrzumehmen? Die Fähigkeit etwas Unkäufliches als Luxus zu empfinden.
Habt Ihr sie noch alle?
Dir Freiheiten, die Euch in dieser Zeit, in dieser Welt gegeben wurden? Freiheiten, die viele nur all zu gerne und leichtfertig aufgeben. Und das in einer völlig unrentablen Rechnung: viel, unermeßlich viel für wenig, für sehr, sehr wenig. Aber auch das ist ja Freiheit. Nur eben schade.
Vielleicht könnt Ihr eine der Fragen mit ja beantworten. Vielleicht mehr. Vielleicht auch - ehrlicherweise - keine. Manchmal hilft es bereits, sich die ein oder andere Frage zu stellen. Aber man muss sich bewusst sein, das die Antwort, die ungeschönte, auch bitter sein kann. Und vielleicht ist sogar diese Bitterniss wiederum der Ansporn, sich die erste Frage noch einmal bewusst zur Brust zu nehmen. Also ...
Habt Ihr sie eigentlich noch alle?