Diesseits und Jenseits

Der Tod, ich glaube ihn in gefühlter Sicherheit noch weit von meiner Person zu wissen, stellt sich, zunehmend von Jahr zu Jahr, immer persönlicher bei uns vor und nicht selten, hinterlässt er bei seinen Stippvisiten unschließbare Lücken in uns und um uns herum. Religiöse Menschen haben es da, ich erwähnt es bereits an anderer Stelle, stets ein wenig leichter, ist ihnen doch die Aussicht auf ein irgendwann stattfindendes Wiedersehen mit der geliebten Person in einer wie auch immer gearteten Form von Jenseits sicher. Aufgeklärte Menschen, Atheisten, Agnostiker, also alle wie auch immer nicht an die Existenz einer höheren Macht, die uns in das Spiel des Lebens gesetzt hat, Glaubenden trifft der Schlag des Verlustes natürlich nicht unmittelbar stärker, als gläubige Menschen. Diese haben jedoch die Chance ihre Trauer auf eine verträgliche Weise zumindest mittelfristig mit Hilfe ihres Glaubens an einen höheren Sinn, einen Plan zu verarbeiten, ja beinahe an die nächst höhere Direktive zu delegieren. Das Bewusstsein einer absoluten Endlichkeit von allem Sein – und ich spreche hier nicht von Energien oder sich in den universellen Kreislauf zurückspeisender Materie – ist für einen Agnostiker wie mich solange kein Problem, wie es theoretisch bleibt.

Geht es aber um den Tod, wird die Sache um ein ganzes Stück komplizierter, gefährlicher, essentiell bedrohlicher. Dabei geht es im Übrigen kaum um den eigenen Tod, zumindest nicht in dem Sinne, dass man Angst vor ihm haben müsste. Das ist wieder ein ganz anderes Thema und hängt in erster Linie – jenseits von Glaubensvorstellungen – davon ab, wie unter welchen Bedingungen man letztendlich stirbt. Die Bedrohung in Form von alles überlagernder Trauer, sowie schon der abstrakten, vorgelagerten Furcht vor ihr, betrifft besonders den Tod eines geliebten Menschen, von dem man weiß, dass man ihn, ist er einmal gegangen, niemals wiedersehen wird. Weder in seiner diesseitigen Existenz, noch in einer als nicht nur abstrakt, sondern als dilettantisch-abstrus, ja kindlich-naiv empfundenen Jenseitigkeit. Man steht plötzlich vor einer unumstößlichen Tatsache, die einen nichts vertagen lässt. Von nun an verblassen Erinnerungen. Es gibt keinerlei Chance sich damit zu trösten, dass eine Aussprache, ein letzter Gruß, die Beschäftigung mit dem was diesen Menschen ausgemacht hat, die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen dem Verstorbenen gegenüber in irgendeiner abstrakten Zukunft möglich sein wird, ohne dass man verklärt, Details vergisst, dem Menschen als das Individuum, das er war, einfach nicht mehr gerecht wird. Der Tod trifft einen so unmittelbar, wie jeden anderen auch. Keine Frage. Aber von nun an gibt es keine Ruhe mehr. Will man seine – von nun bis zum eigenen Tod immer, wenn auch vielleicht nur unterschwellig anhaltende, Trauer, in eine erträgliche Bahn lenken, gibt es keinen Aufschub.

Wie einfach wäre es also angesichts dieses immensen Drucks, sich doch schlicht so zu verhalten, wie viele Menschen es mit zunehmendem Alter und insbesondere in der Nähe des eigenen Lebensendes tun, und sich all jenen anzuschließen, die plötzlich – obschon sie ihr Leben sichtbar bequem ohne Religion und all die lästigen Pflichten die damit einhergehen zubrachten – an Gott zu glauben beginnen. Aus Verzweiflung, aus Angst, aus Bequemlichkeit. Nicht, dass man nicht in einem langen Leben durchaus seine Meinung ändern dürfte, nicht, dass es keine Einsichten geben dürfte, nicht, dass Angst zu unterschätzen wäre. Aber es hat auch etwas mit Haltung zu tun, mit Rückgrat, mit Würde, genau das im Angesicht des eigenen Endes nicht zu tun.   

Warum mich das Verhalten der Menschen in dieser schweren Situation überhaupt so beschäftigt, wobei es mir doch so was von egal sein könnte, schließlich ist – ganz nach meiner Auffassung – Religion ein absolutes Privatvergnügen und ich es in der Tat auch niemandem absprechen möchte, in seiner dunkelsten Stunde aus Angst einen Gott anzurufen, den er bislang verächtlich verneint hat? Nun, ich denke, es ist mein eigener Versuch, den Tod meines Vaters mit über 80 Jahren und das Verhalten meiner Mutter in ebensolchem Alter in einen Zusammenhang zu meinem und ihrem Leben zu setzen, den ich verstehe, der mir letztendlich selber hilft, meine Trauer zu verarbeiten. Vielleicht ist es auch mein Versuch, meinen Eltern ein kleines philosophisches Denkmal zu setzen, haben sie mich doch gelehrt, dem freien, unvoreingenommenen Denken den Vorzug vor erstickenden Dogmen und in Stein gemeißelten „Wahrheiten“ zu geben, die über Jahrtausende Menschen in Unfreiheit gehalten haben.     
Meine Eltern hatten, mein Vater bis hin zu seinem Tod, meine Mutter nach dem schmerzlichen Verlust ihres geliebten Mannes, nicht ein einziges Mal auch nur den leisesten Zweifel an ihrem – ich nenne es nun einmal liebevoll – Religion ignorierenden Unglauben geäußert, ganz im Gegenteil. Was für meine Generation in großen Teilen vielleicht sogar bereits zum Selbstverständnis geworden ist, ist genau das für Menschen die noch vor dem zweiten Weltkrieg geboren wurden absolut nicht.

Dies ist im Übrigen kein Fanal für den Atheismus oder gegen gläubige Menschen. Wer wäre ich, Menschen ihren Glauben abzusprechen. Diese Frage muss jeder Mensch für sich alleine beantworten. Und solange man seinen Glauben mit sich ausmacht und nicht auf andere übertragen möchte, ist es mir absolut egal, wer an was glaubt. Dies ist schlicht eine, meine Art, mich bei meinen Eltern zu bedanken, dass sie es geschafft haben, aus mir einen denkenden, freien Menschen zu machen, dass ich mit dieser Auffassung von Leben sehr glücklich bin und ihnen zu sagen, dass ich unglaublich Stolz auf sie bin. Nicht dass ich auch nur ansatzweise der Versuchung ausgesetzt wäre, mein Weltbild in Frage gestellt zu sehen, aber die Tatsache meine Eltern in dieser Situation nicht umfallen zu sehen, hat mir eine enorme Stärke verliehen.   

Letztlich dient mir die Einstellung meiner Eltern in hohem Alter zum Tod und zu Gott als Beweis, dass man seinem Gewissen treu bleiben kann, dass man seine Einstellung nicht verraten muss, ja, dass die Überzeugung, die ich mir zu einem gehörigen Teil von ihnen abgeschaut habe, eben doch auch existentiellen Situationen, großen Dramen, der Prüfung des Seins an sich Stand hält. Es geht mir hierbei nicht um das bloße Aussprechen eines Satzes wie: „Habe ich also doch Recht gehabt.“ Es geht um das beruhigende Gefühl eines emotionalen Beweises, mit einer im Endeffekt potentiell schwierigen Lebensanschauung, auch nach Schicksalsschlägen wie dem Tod meines Vaters ohne Zweifel weiterleben, mehr noch, diesen auf meine Weise verarbeiten zu können, wie es sonst vielleicht nur gläubige Menschen aufgrund der geistigen Topografie ihrer Religion in der Lage sind.

Mein Herz ist wieder ein klein wenig schwerer geworden, aber mein Rüstzeug wieder ein klein wenig stärker.

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Wo seid Ihr in 10 Jahren?

Einer immergleichen kindlichen Vorfreude verhaftet gehe ich mit.

Nein falsch. Ich bin es, der sie mitnimmt. Es ist mehr als eine Pflicht.
Tiefer als jede Tradition. Es ist eine Verantwortung.
So dringen wir also ein, in den frei zugänglichen Kreis einer zwar
losen Gemeinschaft, wie sie dennoch eingeschworener nicht hätte
sein können; dessen ursprüngliche Entstehung ich selber zwar auch
nur nachgelesen hatte, der ich mich aber dennoch in einem übergeordneten
Sinn, tief verankert in meinem Herzen, zugehörig fühle.
Selbstverständlich bin ich längst einer derjenigen, die sich – selber
– aufgrund ihres Status quo, nicht zuletzt des Alters, in den Stand
der alles Hinterfragenden befördert hatten. So ist es auch nur allzu
offensichtlich, dass jeder, der hier noch älter ist, ein direkter Verbündeter
und damit Mitwissender zu sein scheint.
Hohepriester unter sich.
Zu erkennen sind wir für andere kaum. So ist es schon immer
gewesen. Wenn man dazu gehört, versteht man sich blind und
mitunter auch taub, aber niemals für die Mehrheit ersichtlich. Ein
kurzes Nicken, ein vielsagender, nicht selten grinsender Blick genügt,
Wo seid Ihr in 10 Jahren?

um den Eingeweihten die eigene Erleuchtung, und somit einen eingeforderten
Respekt, wie ein gewährtes gegenseitiges Inruhelassen,
zu signalisieren. Kein territoriales Platzhirschgehabe bestimmt fortan
die Atmosphäre, sondern vielmehr die Wahrnehmung einer geistigen
wie ordnenden Verantwortung, angesichts der erlebten Geschichte,
wie sie hier und an ähnlichen Orten in der ganzen Welt stattgefunden
hatte.
Ein seit jeher gleicher Ritus bestimmt den Ablauf. Elitäres
Denken im Privaten eines jeden Einzelnen prallt frontal auf eine kollektive
Weltoffenheit, die sich selber zu genügen scheint. Doch außer
im Scherz spricht niemand ernsthaft darüber. Dazu ist es viel zu
ernst. Aufgedrehte Novizen wie abgeklärte Großmeister – die Drahtzieher
im Stillen, die Exekutive in der Aura des Rampenlichts: jeder
spielt die ihm letztendlich von sich selbst zugedachte Rolle. Und das
in einer Perfektion, die man niemals wird durchschauen können,
wenn man nicht wenigstens für eine gewisse Zeit ein kleines Teil des
großen Ganzen gewesen ist.
Ein ganz genau auf die essentiellen Bedürfnisse und offensichtlichen
Aufgaben des Individuums ausgelegtes taktisches
Stellungsspiel, bringt die ersten größeren Bewegungen in eine nur
vordergründig träge erscheinende Masse von permanent Konsumierenden.
Dichter Rauch liegt über dem Schauplatz und Sauerstoff
ist eine begehrte wie knappe Luxusware, von der abhängig zu sein
man sich jedoch nicht die Blöße gibt. Keine Schwäche dulden oder
offenbaren. Das bedeutet auch, die bereits zum virtuellen schneiden
vorbereitete, atembare Luft, durch eigenes inzestuöses Zutun
noch ungenießbarer werden zu lassen. Nichtraucher mutieren zu

Kettenrauchern, obschon sie sich bereits seit Jahren aufgrund des
gesundheitlich motivierten Verzichts durchschnorren müssen. Nebulöse
Schemen tanzen vor aller Augen ihren bedrohlichen Schattentanz,
geisterhafte Bewegungen fließen sich aneinander liquidierend
ineinander, Körper tauschen flüchtige Energien aus, muten sich
gegenseitig innigste Berührungen zu. In Sekundenbruchteilen finden
und verlieren sich Überzeugungen, die unterschiedlicher nicht sein
könnten, hier jedoch ihren kleinsten gemeinsamen Ethik-Nenner im
Nebelrausch suchen und für die zuckenden Momente, die es andauert,
auch finden. Schweißnasse Aggressionen entladen sich auf denkbar
bedrohlichste, wenngleich harmloseste Art, alltägliche Ängste
brechen sich Bahn, aufgestaute Emotionen dirigieren ihre Besitzer
schamanenhaft durch die sich durch sie rotierende Menge.
Ich stehe abseits und betrachte, versunken in den Untiefen
meiner sich auch dank solcher Ereignissen herausgebildeten Persönlichkeit,
die Erinnerung, einmal genau den gleichen Impulsen
auf genau die gleiche Art gefolgt zu sein, dem schreienden, sich
verausgabenden Pulk angehört zu haben; immer darauf bedacht, für
winzige Augenblicke noch einmal so fühlen zu können, wie einst.
Und es funktioniert.
Es reichen ein paar Worte, ein Ruf, eine Folge gelernter und
gänsehauterzeugender Töne, vielleicht gepaart mit einem meine
Augen blendendem, die Wirklichkeit fragmentierenden Licht, und es
ist wie damals. Die Augen ins Unendliche fokussiert genieße ich, wie
mein Körper von Wärme durchströmt wird, von diesem unnachahmlichen
Gefühl der Einheit, dieser für diesen Moment unumstößlich
wahren Gewissheit, dass ich mein eigener, in seinem sakralen Still-

stand um sich selbst kreisender Mittelpunkt und in diesem Moment
wahrhaft glücklich bin. Hier gehöre ich her. Mein Körper steht unter
einer in seiner Vertrautheit eigenartigen Spannung. Was auch immer
um mich herum passiert, verschmilzt zu einem großen Ganzen, zu
einem fraktalen Wirklichkeitsklumpen, wie es ihn homogener nicht
geben kann. Ich gebe mich dem schieren und reinsten Genuss hin,
sogar jetzt im tiefsten Bewusstsein, dass es nicht von Dauer ist und
genau das macht den finalen Reiz aus.
Doch dann. Eine seltsame Klarheit schießt durch meine
Nervenbahnen, lässt mich immer ruhiger werden, den Puls verflachen,
der Lärm, alles um mich herum verebbt, als würde jemand den
Master-Regler herunterziehen, als wäre der Stöpsel aus diesem jede
aktive Teilnahme beanspruchende Existenz in sich hineinsaugenden
Abfluss gezogen worden. Meine Wahrnehmung ist mitnichten gestört,
alles funktioniert, wie ich glaube, dass es soll und sogar noch
weit darüber hinaus. Der Mob hat sich keineswegs beruhigt, nichts
hat sich im Vergleich zu den Sekunden vorher auch nur im kleinsten
Detail geändert. Wie automatisiert, gedankenverloren, nehme ich
einen selbstbelohnenden Schluck aus meinem Bier, in beinahe melancholischer
Erinnerung an eine dem Zeitstrom zum Opfer gefallene
Unbeschwertheit. Dann lasse ich meine Augen über die sich langsam
wieder in optisch klar unterteilbare Bereiche entzerrende Szenerie
schweifen, die verschiedenen Grade der Involviertheit an Kontur
gewinnen und die wie kommandoartig organisierte Struktur wird
sichtbar. Meine sich gegenseitig der Federleichtigkeit versichernden
Gedanken spielen sich unbeschwert die Sinnbälle zu, jonglieren freier
denn je mit – mal wieder – aufgebrochenen Denkmustern.
Von vorne erschallt ohrenbetäubend eine Kampfansage, die

in ihrer Güte und Klarheit, ihrer Simplizität und Wahrheit, reiner nicht
hätte sein können. Die Stimme ist ungefähr so alt wie ich und muss
sich ebenso der Tragweite, wie auch der sich in letzter Konsequenz
offenbarenden, unterhaltenden Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst
sein. Dennoch erreicht sie voller echt empfundenem Idealismus die
ekstatischen Massen, die ihre Zustimmung – man ist versucht zu
sagen, ihre blinde Zustimmung, auch wenn das hier nur die halbe
Wahrheit ist – durch lautstarkes Klatschen und Brüllen auf eine mehr
als archaisch anmutende Weise bekundet.
Ich muss grinsen.
Halb die neuerstarkte Gänsehaut genießend, halb das, was
ich in diesem Moment als Weisheit empfindende verspürend, begleiten
mich für die idealisierte Masse finstere Gedanken treusorgend
in meine geräumige Oase der Unberührbarkeit. Ein weiterer Schluck
Bier aus dem immer gleichen Plastikbecher und ich bin sicher. Was
sich bereits seit einigen Jahren seinen Weg bahnt, ist nun Gewissheit.
All die energetischen Novizen, nicht weniger diese vielen langjährigen,
die Ideen einer Szene lebenden Vitalteile des Pulks, sie alle
erhalten das Ganze am (Über-)Leben, sie alle sind sein Leben. Ohne
sie wäre ich nicht hier, wäre niemand hier, hätte ich diesen kleinen,
nahorgasmischen Höhepunkt nicht erleben dürfen, wären all die
Ideen, die das hier ausmachen, kraftlos, belanglos, nicht existent,
vielleicht auf ewig tot.
Und dennoch, ein Gedanke übertrifft sie alle. Eine simple
Frage kristallisiert sich heraus, die zu stellen mir die Reife auferlegt,
und ich bin größer, als noch vor fünf Minuten.


Wo seid Ihr alle in zehn Jahren?
Sitzt Ihr morgendlich gekämmt in einem angenehm klimatisierten
Büro? Habt Ihr 26 Tage Urlaub und einen Firmenwagen? Macht Ihr
Pauschalurlaub im All-Inclusive-Hotel? Verstopft Ihr die Straße mit
extra für sie verbauten Allrad-Jeeps? Lauschen Eure Ohren denselben
mainstreamformatierten Radiosendern wie diejenigen, die Ihr
heute verlacht? Haben Eure Kinder jene Markenattribute verinnerlicht,
die Euch noch in diesem Moment als indiskutabel erscheinen?
Verspürt Ihr das Bedürfnis, wenigstens etwas sollte so bleiben wie es
ist? Schaut Ihr Euch manchmal die Fotos an und klopft Euch auf die
Schulter, um Euch zu vergewissern, dass Ihr dabei wart? Kauft Ihr
Eure Lebensmittel in Geschäften, die Ihr Euch heute schlicht nicht
leisten könnt? Wählt Ihr vielleicht sogar die Partei, die in diesem
Moment auf Euch herabschaut?
Und dann wird mein Grinsen noch etwas breiter und mit leider zu
gleichen Teilen rückwärts wie vorwärts gewandter Sentimentalität
bedankt sich die Gewissheit bei meinem Verstand.
Wir
Können
Nicht
Alle
retten.
Die Frage stellt sich im Prinzip doch überhaupt nicht.

Wo seid Ihr in 10 Jahren? Angepasst wie Arsch!
Und es ist in Ordnung.
Und mit einem mal fühle ich mich gut.